Die Sitzung des Rates Göttingen am 18.02.22 – Eine Farce in drei Akten

Ratssitzung in der Turnhalle Geismar 1- Quelle: Lisa Balkenhol

Prolog

Nach etlichen Wochen der Koalitions-Verhandlungen zwischen den Fraktionen im Rat Göttingen kristallisieren sich nach und nach Bündnisse heraus. Das alte Haushaltsbündnis zwischen SPD und Grünen ist Geschichte, die Grünen-Ratsfraktion hat mit 14 Sitzen die meisten und muss höchstwahrscheinlich dennoch in die Opposition. Als Partnerin hat sie uns, die PARTEI und Volt-Ratsgruppe gefunden – was vor allem daraus resultiert, dass ein neues Verteilsystem eingeführt werden sollte: Statt wie früher die Sitze in den Ausschüssen und Aufsichtsräten nach „Hare-Niemeyer“ anzuwenden, soll nun d’Hondt dafür sorgen, dass die Gremien kleiner werden und die Ausschüsse nicht „zerfasern“, wie es aus den Reihen der großen Parteien tönt. Die Verwaltung soll außerdem nicht so belastet werden. Das D’Hondt Verfahren ist zum Nachteil für die kleinen und kleinsten Parteien. In der ersten Sitzung des konstituierten Rates im Dezember haben wir zusammen mit Linken, Grünen, FDP und mit dem Ratsherrn des Bündnisses für nachhaltige Stadtentwicklung einen Antrag eingebracht, mit der Forderung, für den Göttinger Rat wieder Hare-Niemeyer zu verwenden. Der wurde abgeschmettert, von den großen Parteien mit den bereits genannten Argumenten: dass die Gremien zerfasern würden, außerdem – so die SPD – wolle man sich nicht gegen ein Landesgesetz stellen (das im Übrigen der eigenen Parteifeder entstammt).

Tja, es scheint, dass die SPD geblitzdingst wurde, jedenfalls hat sie für die heutige Sitzung einen Antrag eingebracht, der fordert, wieder Hare-Niemeyer anzuwenden. Vieles hängt nun für die nächsten Jahre davon ab, welche Entscheidung – die im Übrigen einstimmig getroffen werden muss – heute fällt. Führt unsere Gruppenbildung mit den Grünen auch weiterhin noch dazu, die Ausschusssitze gerechter verteilen zu können? Wird es eine Deutschlandkoalition aus SPD, CDU und FDP geben? Eines ist jedenfalls klar: Als echte Demokratinnen und Vertreter*innen zweier Kleinstparteien dürfen wir unsere Fähnchen nicht in den Wind hängen und können die gleiche Entscheidung für Hare-Niemeyer treffen wie schon im Dezember. Doch wie werden sich die anderen entscheiden? Noch ahnen wir nicht, dass nicht etwa die machthungrige Wendigkeit der SPD allein uns beschäftigen wird, sondern es noch viel seltsamer wird. Die Tagesordnung jedenfalls sieht harmloser aus als sie ist…

1.Akt Eine ganz normale Ratssitzung

Ab 16 Uhr wird „Zeynep“ erwartet, ein Sturmtief mit Orkanböen von bis zu 110 km/h. Zur selben Zeit beginnt die Ratssitzung. Ein Omen? Die Bühnenausstattung ist die einer typischen hybriden Stadtratssitzung in Zeiten der Pandemie. Frugales Turnhallenflair, man hat ausreichend Abstand zwischen den Sitzplätzen, etwa 10 von 49 Ratsmitgliedern nehmen online teil und schweben auf einer großen Leinwand über allem. Die Sitzung wird per Livestream auf YouTube gesendet.

Es geht los mit den Mitteilungen der Oberbürgermeisterin. Frau Broistedt ruft angesichts der Ukraine-Krise zu einem Friedensprotest auf, am Samstag den 26.02. um 18 Uhr vor dem Neuen Rathaus . Unsere Gruppe mit den Grünen wird offiziell

Es folgen die Tagesordnungspunkte 5 und 6: Wir sind natürlich für einen gerechten Glasfaserausbau für ganz Göttingen und die Versorgung mit FFP2-Masken für finanziell benachteiligte Gesesellschaftsgruppen. Haben wir schon vor 2 Jahren gefordert: Antrag.

Man ist sich weitestgehend einig, nicht sehr spannend. Erste kleine Differenzen tauchen beim Top 7 auf, unserer Resolution „Solidarität und Zusammenhalt in Pandemiezeiten – Zusammen gegen Wissenschaftsfeindlichkeit, Hass und Hetze!“ die wir zusammen mit SPD, den Grünen, CDU und dem Ratsherrn Welter-Schultes einbringen.

Unsere Ratsfrau Helena Arndt hält hierzu diese Rede: https://rat.die-partei-goettingen.de/2022/02/20/rede-von-helena-arndt-die-partei-zu-top-7-gemeinsamer-antrag-betr-solidaritaet-und-zusammenhalt-in-pandemiezeiten-zusammen-gegen-wissenschaftsfeindlichkeit-hass-und-hetze/

Die Resolution wird angenommen, bei Enthaltungen aus Reihen der Linken und der FDP in seltener und bemerkenswerter Einigkeit. Kurzes Innehalten, dann fallen einem Kubicki, Wagenknecht und Dieter Dehm ein und  es ergibt wieder einen Sinn. Wir folgen weiter der dahindümpelnden Ratssitzung, während draußen der Sturm wütet, die Regentropfen immer lauter auf das Dach des kargen und zugigen Sporthallenbaus prasseln. Wir hoffen, dass die Halle dem Sturm standhält und sich der Investitionsstau an Göttinger Schulen nicht zu unseren Ungunsten rächt. Obwohl: Der Göttinger Rat ausgelöscht ausgerechnet von „Zeynep“  – es hätte eine gewisse Komik…

2. Akt – Wer hat uns verraten?

Mittlerweile hat sich draußen der Himmel komplett verdunkelt und das Rauschen des Regens begleitet die Ouvertüre zum o.g. Top12, die in Form einer Rede des SPD-Fraktionsvorsitzenden daherkommt und alle unserer Erwartungen übererfüllt. Wie kleidet man den puren Willen zum Machterhalt in ein demokratisches Gewand? Man habe dazugelernt und erkenne nun auf einmal die Vorteile von Hare-Niemeyer. Außerdem sei man sonst gezwungen, eine Deutschlandkoalition einzugehen. Es gebe erstaunlich viele Schnittmengen zwischen den drei Fraktionen von SPD, CDU und FDP.  Hört, hört.

Unsere Ratsfrau Helena Arndt (die PARTEI) findet passende Worte: https://rat.die-partei-goettingen.de/2022/02/20/rede-von-helena-arndt-die-partei-zu-top-12-antrag-der-spd-ratsfraktion-feste-sitze-in-allen-ausschuessen-fuer-so-viele-fraktionen-wie-moeglich/

Auch unser Ratsherr Till Hampe (Volt) hat bereits vorher geahnt, was kommen würde, und fasst dies in seiner Rede kompakt zusammen: https://rat.die-partei-goettingen.de/2022/02/20/rede-von-till-hampe-volt-zu-top-12-antrag-der-spd-ratsfraktion-feste-sitze-in-allen-ausschuessen-fuer-so-viele-fraktionen-wie-moeglich/

Alles gesagt?


Es folgt nun der

3. Akt – Auftritt des Schneckenforschers


Zur Überraschung aller tritt nun der Einzelabgeordnete des „Bündnis für nachhaltige Stadtentwicklung“ auf, seines Zeichens Malokologe. Der Schneckenforscher scheint unter noch weitreichenderer Amnesie zu leiden als die SPD und CDU. Noch im Dezember hatte er mit uns die Resolution eingebracht FÜR eine Anwendung von Hare-Niemeyer. Nun, drei Monate später, kann er sich auf einmal nicht mehr dafür entscheiden und offenbart nebenbei die angebliche Unfreiheit seines Mandats: Leider, leider erlaube ihm das Bündnis für nachhaltige Stadtentwicklung nicht, für Hare-Niemeyer zu stimmen. Er sei schlicht nicht befugt, hierzu eine eigene Entscheidung zu treffen. Interessant wird dieses Argument zusätzlich, wenn man weiß, dass der Schneckenforscher Begründer, Gesicht, Pressesprecher und Mandatsträger desselben Bündnisses in Personalunion ist. Das müssen interessante Diskussionen mit sich selbst gewesen sein.

Seine Rede indes lässt alle Träume  der Deutschlandkoalition platzen, das wird ziemlich schnell klar. Noch während der folgenden Rede der CDU pendeln einzelne Ratsmitglieder zum abseits stehenden Tisch des Schneckenforschers und versuchen ihn umzustimmen. Eine Enthaltung genügt, um Hare-Niemeyer zu verhindern.
Die Ratssitzung wird pausiert und es beginnt ein Bieterkrieg wie in den Aktienbörsen der frühen 80er. Man redet auf den Schneckenforscher ein, versucht ihn mit allen Mitteln  zu überzeugen, während er mit jeder Kommunalprominenz, die an ihn herantritt, ein bisschen zu wachsen scheint.

Hier ein Bild aus Zuschauersicht, das die Lage illustriert:

Quelle: Lisa Balkenhol

Und hier die Detailansicht:

Image
Quelle: twitter

Man verlässt sogar zeitweise die Halle gemeinsam mit ihm, um die Intransparenz noch deutlicher zu machen. Dies versucht ein Ratsmitglied der CDU sofort zu nutzen und schlägt vor, die Abstimmung einfach in Abwesenheit des Schneckenforschers durchzuführen, was jedoch vom grünen Ratsvorsitzenden empört abgelehnt wird. Das geht nun wirklich zu weit!

Wie weit es wirklich geht, wird nach etwa einer Stunde Gefeilsche unter Ausschluss der Öffentlichkeit gewahr. Aus gut unterrichteten Kreisen erfahren wir: Der Schneckenforscher bekommt zur Belohnung für sein erpresserisches Verhalten einen Sitz im Bauausschuss zugesagt, als wären die Wahlergebnisse nur Serviervorschläge. Gut, dass wir keine AfD im Rat sitzen haben! Der Schneckenforscher scheint nun plötzlich vom Joch des Bündnis für nachhaltige Stadtentwicklung befreit und kann, ohne Probleme sein freies Mandat ausüben und für Hare-Niemeyer stimmen. Oh Wunder! So funktioniert Demokratie!

Der Rest der Sitzung rauscht wie der schwächer werdende Regen draußen an uns vorbei. Der Sturm hat sich gelegt, wird langsam zu einer belanglosen Brise, die grauen deutschen Nieselregen vor sich her treibt. Kommunalpolitik ist gar nicht so komplizert, vor allem, wenn man Gewissen und Ideale zuhause lässt.

Epilog

Die Sitzung ist vorbei, langsam verlässt der Rat den Sitzungsort. Auch wir verlassen die Turnhalle, in dem Wissen, dass mehr als die Hälfte dieses Gremiums ein ziemlich verqueres Demokratieverständnis hat. Draußen treffen wir auf ein Ratsmitglied, das die passenden Worte findet: „Ich würde jetzt am liebsten schön Essengehen und mich sinnlos betrinken.“  Dem ist nichts hinzuzufügen.
Prost!